Gelehrter und Praktizierender – ehemalige Abt von Gyume Tantric College (eine Selbsterzählung)
Ich wurde 1914 in der Provinz Dagyab/Kham (Osttibet) geboren, die in der Region Dotö (mDo stod) ganz im Osten Tibets nahe der chinesischen Grenze liegt. Mein Heimatdorf ist Yülschül (Yul shul).
Die Menschen dieser Gegend, die zu den ärmeren Landstrichen Tibets zählte, lebten nicht von Handel und Gewerbe, sondern meist von der Landwirtschaft. Zum einen gab es dort Bauern, die Ackerbau betrieben, zum anderen Nomaden, die hauptsächlich von Viehzucht und der Erzeugung von Milchprodukten lebten.
Größere Städte gab es in Dagyab nicht, aber zahlreiche Klöster und viele Mönche. Innerhalb und außerhalb der Klöster hatten viele Menschen Verbindungen zum Dharma. Wer nicht im Kloster lebte, war meist sehr gläubig, nahm Zuflucht, rezitierte Mantras und führte andere religiöse Handlungen durch. Das eigentliche, tiefgründige Wissen über den Dharma war dagegen nicht sehr verbreitet, denn die Menschen mußten hart arbeiten und hatten wenig Zeit, sich mit Dharma eingehend zu beschäftigen. Das ist ganz ähnlich wie hier, wo die Menschen viel arbeiten müssen und nur wenig Zeit dafür haben, sich intensiv mit den Inhalten des Dharma auseinanderzusetzen.
Meine Erinnerung beginnt erst etwa mit dem vierten Lebensjahr, als ich anfing, Lesen und Schreiben zu lernen. An meine Eltern erinnere ich mich noch gut; sie hielten mich dazu an, die Schriften zu lesen und auswendig zu lernen. Am Anfang gelang mir dies allerdings nicht gut.
Während der nächsten vier Jahre mußte ich hauptsächlich das Vieh hüten – Ziegen, Kühe, Tsomo, Pferde etc. So war ich oft den ganzen Tag unterwegs, um die Tiere dorthin zu bringen, wo es etwas zu fressen gab, und sie abends zurück zum Hof zu führen.
Zu jener Zeit lebten in China viele Buddhisten, und ab und zu reisten Lamas aus China nach Tibet. Als ich etwa neun oder zehn Jahre alt war, kam ein chinesischer Lama, der eine Trommel schlug und aus der Hand lesen konnte, durch unser Dorf. Alle Dorfbewohner kamen zu ihm und ließen sich von ihm aus der Hand lesen. Natürlich ging auch ich dorthin und ließ mir die Zukunft vorhersagen. Als der Lama meine Handlinien gesehen hatte, riet er mir, Mönch zu werden. Als Mönch, so der Wahrsager, werde es mir sehr gut gehen, ich werde ein glückliches Leben führen, die Lehre, die ich studiere, gut verstehen, viele Tugenden entwickeln und ein langes Leben genießen. Bliebe ich hingegen Laie, so werde mein Leben nicht gut gelingen. Ich würde nicht viel Erfolg damit haben, Reichtümer anzusammeln, viele Schwierigkeiten erleben und nur ein kurzes Leben haben. Deshalb könne er mir nur raten, Mönch zu werden. Ich freute mich über seine Worte, da sie meinen eigenen Wünschen entsprachen.
Trotzdem lebte ich von meinem dreizehnten bis zum neunzehnten Lebensjahr weiter bei meinen Eltern. Ich mußte hart arbeiten, da auf dem Hof viel Arbeit anfiel. Meine Familie ging davon aus, daß ich mein Leben auf dem Hof verbringen und für die Familie arbeiten würde. Ich selbst dagegen hielt an meinem Wunsch fest, Mönch zu werden, wie es mir der Lama geraten hatte.
Dann kam es zwischen den Chinesen und Tibetern zu kriegerischen Auseinandersetzungen, in die das Kloster Dargyä verwickelt war. In diesem Kloster lebten Mönche aus verschiedenen Landesteilen Tibets. Die Chinesen kämpften um das Kloster, so daß viele Mönche gezwungen waren, es zu verlassen; etwa 300 Mönche flohen in das Gebiet, in dem meine Familie lebte. Wir hatten kein gutes Jahr damals. Die Mönche kamen im Juli und August, als gerade der Großteil unserer Ernte durch Hagelschauer vernichtet worden war. Ich fühlte mich überhaupt nicht mehr wohl in dieser Situation. Einigen meiner gleichaltrigen Freunde ging es ähnlich, und wir beschlossen zu fliehen. Eines Nachts stahlen wir uns mit etwas Proviant und Geld versehen davon, ohne den Eltern etwas zu sagen, um ins Kloster zu gehen.
In der ersten Nacht versteckten wir uns im Wald, während die Verwandten in alle Richtungen ausschwärmten und uns mit Hunden suchten. Zum Glück fanden sie uns nicht. Als ‘die Luft rein war’, machten meine Freunde und ich uns auf den Weg nach Zentraltibet, nach Lhasa. Jeder wußte, daß es in Lhasa die besten Klosteruniversitäten gab, und deshalb wollten wir dorthin gehen.
Unterwegs trafen wir auf eine Gruppe von etwa fünfzig Mönchen aus verschiedenen Gegenden Tibets, die dasselbe Ziel hatten wie wir. Zu der Zeit gab es natürlich noch keine Autos, sondern man reiste mit Pferden oder Yaks. Die Tiere wurden bepackt, und dann begab man sich auf die Reise. Die Mönche, denen wir uns anschlossen, reisten mit solchen Lasttieren. Allerdings mußten wir vier natürlich unsere Rucksäcke selber tragen, weil wir keine Lasttiere dabei hatten.
Die Reise nach Lhasa dauerte einen Monat und 27 Tage. Als wir in Lhasa ankamen, trafen wir einen Bekannten, der Mönch in Sera war und uns mit in sein Kloster nahm. Ich trat im neunten Monat des tibetischen Jahres (1933) im Alter von 19 Jahren ins Kloster Sera ein. Dort erhielt ich die Mönchskleidung und begann mit dem Studium.
Die Studien waren sehr intensiv und oft schwierig. Zuerst wurden die Gesammelten Themen über Gültige Erkenntnis (pramana), auf Tibetisch Düdra (bsdus grva), studiert. Es gibt verschiedene Bände über den anfänglichen, den mittleren und den großen Pfad der Logik; dieses Studium dauerte zwei Jahre. Später wurden dann andere Gebiete studiert, die Vollkommenheiten (paramita), die Philosophie des Mittleren Weges (madhyamaka), das Höhere Wissen (abhidharma), und die Schulung der Disziplin (vinaya).
Während der ersten Jahre fiel es mir schwer, die Studienthemen zu verstehen, und ich war darüber unzufrieden. Manchmal überlegte ich sogar, ob ich wieder in die Heimat zurückkehren sollte. In der Paramita-Klasse, in der die fünf Schriften Maitreyas studiert werden, mußte man nachts abwechselnd zwei Debatten besuchen, die eine über Paramita, also die Sechs Vollkommenheiten, die andere über Madhyamaka, die Philosophie des Mittleren Weges. Wir mußten ein Jahr lang jede Nacht debattieren. Am Ende des Jahres hieß es, daß ich in der Paramita- Klasse ganz gut mitgekommen sei und mich bei den Debatten bewährt habe. So kam ich zu dem Schluß, daß ich wohl doch genügend Verständnis für die Studien besaß. Als nächstes trat ich in die darauffolgenden Klassen des Paramita- Studiums ein und studierte somit insgesamt sechs Jahre lang die Vollkommenheiten entsprechend den Schriften von Buddha Maitreya über den Bodhisattvapfad.
Als ich 20 Jahre alt war, nahm ich zunächst das Gelübde eines Noviz-Mönches, auf Tibetisch Getsül (oeramanera), von dem damaligen 93. “Ganden Tripa”, dem “Thronfolger von Ganden” und damit dem Nachfolger von Dsche Tsongkapa. Er stammte aus dem Kloster Drepung. Ugyen Tseten (Or rgyan tshe bstan) ist der Name, den mir meine Eltern gaben. Mein Mönchsname, den ich bei der Ordination erhielt, lautet Yeshe Sönam (Ye shes bsod nams). Im Alter von 25 Jahren nahm ich während der Paramita- Studien von Purbutschok Dschampa Rinpotsche, einem Tutor des dreizehnten Dalai Lama, das Gelübde eines vollordinierten Mönchs (bhikshu).
Zwischen den Paramita- Studien und den Madhyamaka- Studien gibt es eine Übergangszeit, in der allgemeine Belehrungen erteilt wurden. Zu meiner Zeit gab Kyabdsche Pabongka Rinpotsche eine Lamrim-Unterweisung über die sogenannten Acht Großen Lamrim-Überlieferungen (lam rim thri chen brgyad), die zwei Monate lang dauerten. Diese kostbaren Unterweisungen haben mir sehr geholfen, und ich hatte keine Schwierigkeiten, sie zu verstehen. Die Belehrungen waren insofern besonders hilfreich, weil sie eine Verbindung zwischen den Studien und der eigentlichen Übung der verschiedenen Stufen auf dem Pfad bildeten.
Nach Beendigung der Paramita-Studien besuchte ich die Madhyamaka-Klasse, die die Philosophie des Mittleren Weges zum Inhalt hat. Der Tagesablauf in der Madhyamaka- Klasse ist in den ersten zwei Jahren sehr hart: Tagsüber gibt es Unterricht und Debatten, die ganze Nacht über wird debattiert. Für dieses Studium gilt das Motto: “Selbst wenn dir die Haare auf dem Kopf brennen würden, fändest du keine Zeit, das Feuer zu löschen.” Das Thema der Madhyamaka-Klasse ist die Leerheit, also ein sehr umfassendes Studiengebiet. Im zweiten Jahr hatte ich das Gefühl, daß ich es verstanden und einen guten Überblick über die Schriften gewonnen hatte. Dieser Überblick läßt sich vielleicht damit vergleichen, daß man auf einem Hochhaus steht und einen weiten Blick über das Land hat. Auch die anderen Mönche bestärkten mich und sagten, daß ich die Schriften gut verstanden hätte. Dadurch fühlte ich mich entspannt und ruhig im Geist.
Dann folgten zwei Jahre der fortgeschrittenen Madhyamaka-Klasse, in der weitere Kommentare zu den Werken der indischen Meister Nagarjuna und Chandrakirti studiert werden, wie z.B. der große Kommentar des tibetischen Meisters Dsche Tsongkapa “Ozean der Beweisführung (Rig pa’i rgya mtsho)” zu Nagarjunas “Grundversen zum Mittleren Weg” (Madhyamakaoeastra). In dieser Klasse waren die Regeln etwas lockerer, so daß der Zeitplan es erlaubte, auch über den Unterrichtsstoff hinausgehende Belehrungen zu hören. So hörte ich zusätzlich Belehrungen von Kyabdsche Tridschang Rinpotsche und Kyabdsche Ling Rinpotsche.
Außerdem bemühte ich mich, die verschiedenen Übertragungen von Initiationen und Meditationsanweisungen der Meister jener Zeit zu erhalten. Im Rahmen des Studiums hatte ich fünf sogenannte Schriftenlehrer, die den eigentlichen Unterricht gaben. War einer von ihnen verhindert, ging man zu einem der anderen. Die Lehrer betonten immer wieder, wie wichtig es sei, die Bereitschaft zu entwickeln, Schwierigkeiten auf sich zu nehmen, die im Verlauf des Studierens und Übens von Dharma auftreten. Sie verwiesen auf große Vorbilder in der Geschichte wie die vergangenen Meister Milarepa und Drubtschok Ngawang Dschampa. Diese Meister übten sich ohne jeden materiellen Besitz und unter großen Schwierigkeiten, und es heißt, daß sie in nur einem Leben die Buddhaschaft erreichten. Deshalb sollte man, auch wenn es einem an den materiellen Annehmlichkeiten und notwendigen Gütern mangelt, mit großem Eifer studieren und sich üben, den Geist z.B. durch Niederwerfungen zu reinigen.
Damals besaß ich nur wenige materielle Güter und auch nicht viel Nahrung. Doch trotz der materiellen Schwierigkeiten fühlte ich mich im Kloster sehr wohl und entspannt und hatte das Gefühl, daß ich ein tiefes Verständnis der Schriften entwickelte.
Zu jener Zeit wurde der 14. Dalai Lama Tenzin Gyatso erkannt, nach Lhasa gebracht und dort inthronisiert, aber natürlich noch nicht zum politischen Oberhaupt Tibets gemacht. Diese Rolle übernahm Redring Rinpotsche zu einer Zeit, als es einige innenpolitische Unruhen in Lhasa gab. Die zum Teil mit Gewalt geführten Auseinandersetzungen wirkten sich negativ auf alle Menschen und auf die Lehre des Dharma aus. Es ist unmöglich, den Geist tief mit dem Dharma zu beschäftigen und sich auf das Studium zu konzentrieren, wenn die Menschen mit Krieg und Konflikten beschäftigt sind. Für das Studium ist es wichtig, daß man einen ausgeglichenen, entspannten und freudigen Geist hat. Solch eine Geisteshaltung zu entwickeln war zu dieser Zeit jedoch nicht recht möglich.
Während meines Studiums in der fortgeschrittenen Klasse über den Mittleren Weg gab Kyabdsche Tridschang Rinpotsche Lamrim-Unterweisungen über die Schriften Lamrim Delam und Lamrim Nyurlam, den Angenehmen Pfad und den Schnellen Pfad zur Erleuchtung. Diese Belehrungen dauerten 28 Tage, und ich empfand sie als außerordentlich hilfreich; sie taten meinem Geist sehr gut. In der Klasse über den Mittleren Weg blieb neben dem Studium noch Zeit, die ich nutzte, um über diese Unterweisungen nachzudenken und sie in der Abgeschiedenheit zu meditieren.
Mittlerweile verfügte ich über ein gutes Verständnis von Dharma und dachte an nichts anderes als an Dharma. Es war eine sehr gute Zeit, in der ich mich körperlich wie geistig sehr wohl fühlte. der einzige Nachteil war, daß nicht genug Zeit blieb, längere Meditationsklausuren durchzuführen. man konnte sich nur zu kürzeren Mewditationen zurückziehen, weil noch die höheren klassen und andere Studiengebiete wie Vinaya und Abhidharma folgten. So waren längere Klausuren nicht möglich.
Der Buddha hat sehr viele Unterweisungen gegeben. Man spricht von 84.000 Anhäufungen seiner Lehre, die sich in die Drei Schriftabteilungen zusammenfassen lassen: die Schriftabteilungen der Disziplin (vinaya-pitaka), der Lehrreden (sutra-pitaka) und des Höheren Wissens (abhidharma-pitaka).
Die Schriftabteilung des Vinaya enthält im wesentlichen die Schulung der ethischen Disziplin. Im Kangyur (bkan ‘gyur), dem tibetischen Kanon, gibt es vier Abteilungen über Vinaya, die aus zwölf Bänden bestehen. Die Schriftabteilung der Lehrreden lehrt im wesentlichen die Höhere Schulung der meditativen Sammlung; in diesem Zusammenhang werden hauptsächlich die Vollkommenheiten z.B. anhand der Schrift von Maitreyas ‘Schmuck der klaren Erkenntnis’ studiert. Zur Schriftabteilung des Höheren Wissens, Abhidharma, die im wesentlichen die Schulung der Weisheit lehrt, werden Schriften wie das Schatzhaus des Höheren Wissens (Abhidharmakosha) von Vasubandhu, Schriften über Logik, über Erkenntnis und die Schriften über den Mittleren Weg studiert.
Nach dem Studium des Mittleren Weges folgte das Studium des Vinaya, das vier Jahre dauert und nach dem Lehrsystem der Vaibhashikas (also nach einer der Hinayana-Schulen) durchgeführt wird.
Im Rahmen des Vinaya studiert man die Übung der ethischen Disziplin. Man lernt, welche Disziplinen einzuhalten sind, welche Verfehlungen es gegen die verschiedenen Gelübde bzw. ihre Regeln gibt und welche Nachteile aus solchen Verfehlungen entstehen. Die Studien über die Disziplin sind sehr umfassend, und die Lehrer legen sehr viel Wert darauf, daß man die verschiedenen Erklärungen gut lernt und sich einprägt. Diejenigen, die sich sehr gründlich mit dem Studium des Vinaya befaßt haben, machen sich manchmal über diejenigen, die es damit nicht so genau genommen haben, lustig: “Ich weiß nicht viel von Disziplin, aber ich diszipliniere meinen eigenen Geist, und das reicht mir.”
Nach dem Studium des Vinaya ist das Studium des Höheren Wissens an der Reihe, und zwar das des unteren Abhidharma, das hauptsächlich dem Schatzhaus des Höheren Wissens von Vasubandhu folgt. Zwei Jahre lang widmete ich mich Themen, wie ‘Die Situation der Wesen im Daseinskreislauf’, ‘Äußere und Innere Welt’, d.h. die Beschreibungen wie eine Welt zustandekommt, wie sie besteht, wie sie wieder vergeht, wie ein Zeitalter der Leere eintritt, usw. Nach diesen Studien folgt die sogenannte Karam-Klasse, eine Vorbereitungsklasse für die höchste Studienklasse, die sogenannte Lharam-Klasse, die mit dem Abschluß des Lharampa-Gesche endet. Auch diese nimmt zwei Jahre in Anspruch. Es werden folgende Themen wiederholt und in der Debatte vertieft: Höheres Wissen, Disziplin und Logik. Es wurde sehr viel debattiert. Im siebten tibetischen Monat gab es immer eine große Debatte. Dazu kamen in den Klosteruniversitäten jeweils die Mönche beider philosophischen Klosterabteilungen zusammen, wobei immer zwei Mönche miteinander debattieren. Der Disziplinar legte großen Wert darauf, daß die Mönche an dieser Veranstaltung teilnehmen. Wenn zu dieser großen Debattierveranstaltung die Mönche beider Kollegs zusammenkamen, waren in Sera beispielsweise etwa 6000 bis 7000 Mönche anwesend.
Nach Beendigung der Karam-Klasse wird man vom Abt der Lharam-Klasse, dieser höchsten Klasse, zugewiesen. Das heißt, man erhält vom Abt ein Abschlußzertifikat, das den eigenen Studien und Kenntnissen entspricht. Es gibt vier verschiedene Gesche-Grade: Der höchste ist der des Gesche Lharam, dann folgt der Gesche Tsogram, der dritte ist der des Gesche Rigram und der vierte Grad der des Gesche Lingsel. Diejenigen mit dem höchsten Grad gehen in die Lharam- Klasse. Ziel des Studiums ist, daß man den Grad eines Gesche erlangt, ähnlich wie man an einer Schule oder Universität verschiedene Abschlüsse oder Grade erhalten kann.
Was mich betrifft, so wäre ich von meinem Wissensstand her gesehen eigentlich nicht für die Lharam-Klasse geeignet gewesen. Doch der Abt wies mich der Lharam-Klasse zu, damit ich auf den höchsten Abschluß hinarbeiten konnte. Innerhalb dieser Klasse bestehen sehr strenge Vorschriften und es sind nur die besten Mönche anwesend. Man muß diese letzte Klasse mit großem Eifer durchführen, weil das Studium intensiv ist und hohe Anforderungen stellt. Einige Mönche bleiben sieben Jahre lang in dieser Klasse, andere sechs oder fünf. Ich besuchte diese Klasse vier Jahre lang, bis ich 1958 an die Reihe kam, die öffentliche Prüfung abzulegen, die auf einem Großen Gebetsfest in Lhasa in Form einer öffentlichen Debatte stattfand.
Zur öffentlichen Debatte kommen die Mönche aus allen drei Klosteruniversitäten, Drepung, Sera und Ganden, aber auch Mönche aus kleineren und entfernten Klöstern zusammen. Im Haupttempel von Lhasa finden dann die Debatten statt, in denen die angehenden Gesches von morgens früh bis spät in die Nacht von den Mönchen befragt werden. Bei dieser Veranstaltung sind immer zwei Äbte und eine Reihe berühmter und gelehrter Gesches anwesend, die religiöse Berater bzw. Debattierpartner des Dalai Lama sind, die darauf achten, wie die Antworten gegeben werden. Ich empfand es etwas furchteinflößend, vor dieser Kulisse debattieren zu müssen. Am Ende der Prüfung werden von den anwesenden Äbten Noten verteilt.
Das Gebetsfest wurde von Dsche Tsongkapa begründet. Es findet in dem Monat statt, in dem der Überwindung der falschen Lehre durch den Buddha gedacht wird. Zur Zeit des Buddha gab es eine Art Wettstreit mit nicht-buddhistischen Lehrern, in dem der Buddha seine Kontrahenten mit seinen Wunderkräften übertraf. Dsche Tsongkapa richtete in Erinnerung daran ein Gebetsfest (cho ‘phrul smon lam chen mo) ein, bei dem die Mönche und die Gelehrten miteinander debattieren sollten.
Bei der Prüfung schloß ich als Drittbester ab. Von den Gesches, die eine Benotung erhalten (nicht jeder Teilnehmer an der Prüfung erhält eine Benotung), wird erwartet, daß sie in das Tantra-Kolleg eintreten. So trat ich im Jahr 1959 Gyüme (rGyud smad), dem Tantra-Kolleg von Unter-Lhasa, bei. Dort war es Sitte, daß die Mönche immer im Anschluß an das Gebetsfest, also im zweiten Monat des tibetischen Jahres (März/April), über Land zu den kleineren Klöstern gingen. Auf diese Reise nahm man nur einen Rucksack mit den vorgeschriebenen Gegenständen mit.
Im Tantrakolleg herrschte eine strenge Disziplin mit sehr viel mehr Vorschriften als in den Klosteruniversitäten. Wir durften beispielsweise nur zweimal am Tag Tee trinken; entsprechend groß war auch die Tasse (eine Art Holzschale). Außerdem brauchte jeder unbedingt eine eigene Almosenschale. Auf die Wanderschaft nahm man die Tasse und die Almosenschale mit. Außerdem hatte man einen Buchdeckel aus Bambus bei sich zu führen, um darin Schriften zu transportierten. Zu essen gab es statt Reis und gekochtem Essen Tsampa, geröstetes Gerstenmehl. Dafür mußte man einen Baumwollsack mitnehmen und sich selbst darum kümmern, daß man diesen genäht bekam. Außerdem brauchte man eine Tasche in vorgeschriebener Größe für Lebensmittel und andere Gegenstände. Es gab noch einen weißen großen Baumwollstoff, in den die verschiedenen Habseligkeiten (Mönchskleider etc.) eingewickelt wurden. Das Tuch band man sich auf den Rücken. Darüber trug man einen Daram, einen Umhang aus schwerem Stoff, auf den dann die Almosenschale gelegt wurde. So bepackt ging man etwa zwei Tagereisen weit auf Wanderschaft (Scho Dangpo) zu einem Tempel.
Dort wurden sehr lange und anstrengende Rezitationen, Unterweisungen, Debatten usw. durchgeführt, die vom frühen Morgen bis spät in die Nacht hinein dauerten. Das alles hatte man mit größter Disziplin durchzuführen. An diesem Ort blieben wir fünfzehn Tage lang, bis wir der Tradition gemäß am fünfzehnten Tag des zweiten tibetischen Monats in das Tantra-Kolleg zurückkehrten.
Als wir uns damals auf die Rückreise begaben, hörten wir, daß Seine Heiligkeit nach Indien geflohen war, und so kehrten auch wir nicht ins Kloster zurück. Zusammen mit einigen anderen Mönchen machte ich mich sofort auf den Weg nach Süden, nach Indien. Unsere beschwerliche Reise über die Berge dauerte etwa einen Monat. Wir besaßen keine Pferde oder Lasttiere, sondern nur die Gegenstände, die wir auf unsere Wanderschaft mitgenommen hatten, wie Mönchskleider, Baumwollsack und Almosenschale.
Die Reise war nicht nur beschwerlich, sondern auch gefährlich. Oft mußten wir vor chinesischen Soldaten flüchten, die sich in der Gegend aufhielten, die wir durchquerten. Auf dem Weg schlossen wir uns anderen Mönchen an, bis wir mit etwa fünfzig Mönchen die indische Grenze erreichten, die Seine Heiligkeit sieben Tagen zuvor passiert hatte. Damals hatte ich keine Probleme mit den Knien und dem Laufen:Die Angst vor den Chinesen machte mich sehr beweglich. In Montawang, Indien, waren wir dann in Sicherheit und wurden angewiesen, nach Nordosten zu gehen, nach Assam, wohin alle Flüchtlinge aus Tibet geschickt wurden. Die Reise dauerte noch einmal sechs bis sieben Tage. Nun, da die Gefahr vorbei war und man sich nicht mehr vor den Chinesen zu fürchten brauchte, spürte ich die Beine wesentlich stärker.
In Assam sammelten sich die tibetischen Flüchtlinge, und ihre Vertreter verhandelten mit der indischen Regierung. Sie baten darum, einen Ort zu schaffen, wo die älteren Menschen leben konnten. Außerdem sollte es einen Ort geben, wo die Ordinierten zusammenleben und ihren Studien nachgehen konnten. Auch wurden Mittel und Wege gesucht, daß die Kinder in die Schule gehen und die jungen Menschen eine Ausbildung erhalten konnten. Die Dreißig- bis Vierzigjährigen erhielten Arbeitsplätze im Straßenbau und in ähnlichen Bereichen. Die Mönche aus allen vier Traditionen trafen sich in Buxa, um dort weiterzustudieren und ihrer religiösen Praxis nachzugehen.
Als in Indien die Engländer noch an der Macht waren, war Buxa ein Gefangenenlager für indische Widerstandskämpfer, entsprechend sah es dort aus. Buxa bestand aus einer großen Fläche, die von Stacheldraht und Zäunen umgeben war. In großen Häusern mit vielen Zimmern lebten bald über eintausend Mönche aus den verschiedenen Traditionen des tibetischen Buddhismus. Die älteren Mönche gaben Unterricht, die jungen Mönche führten ihre Studien und ihre Debatten durch. In der Regel blieb man etwa acht Jahre lang dort. Ich selbst verbrachte nur drei Jahre in Buxa, zusammen mit befreundeten Mönchen aus Sera. Dann zogen die Mönche des Tantra-Kollegs nach Dalhousie, wo 160 Mönche zusammenkamen. S.H. der Dalai Lama wies alle Mönche des Tantra- Kollegs an, sich wieder zu sammeln und ihre Studien weiterzuführen. So nahm ich dann meine Studien und Aufgaben an diesem Tantra-Kolleg wieder auf. Als examinierter Gesche hatte ich viele Aufgaben zu übernehmen, zum Beispiel das Rezitieren des großen tantrischen Kommentars, den man auswendig lernt und vor der Versammlung rezitiert. Außerdem wurde ich unter anderem für einige Zeit zum Disziplinar des Tantra-Kollegs bestimmt.
Nach fünf Jahren in Dalhousie lud mich S.H. der Dalai Lama nach Dharamsala ein. Seine Heiligkeit bat mich, das neu zu gründende Kloster Rikon für tibetische Flüchtlinge in der Schweiz als Abt zu leiten. 1967 kam ich in die Schweiz, wo es eine große tibetische Flüchtlingsgemeinde gab und heute noch gibt. Ich ging zusammen mit vier weiteren Mönchen dorthin (Amtsantritt am 12. Juli 1967). Nach einem Jahr konnte das Kloster seinen Betrieb aufnehmen. Ich blieb etwas mehr als sechs Jahre lang Abt des Klosters in Rikon.
Zunächst war dieses Kloster für die Tibeter gedacht, um Rituale durchzuführen, an Unterweisungen teilzunehmen und dergleichen. Mit der Zeit kamen aber auch mehr und mehr westliche Menschen mit ihren Fragen zu uns. Die anderen Mönche und ich wurden oft gebeten, in Universitäten und anderen Institutionen zu sprechen. Manchmal kamen auch Menschen, die einige Zeit im Kloster blieben, Fragen stellten und dann wieder ihren Forschungsvorhaben nachgingen. Ihre Fragen an mich bezogen sich oft nicht auf das, was ich gelernt und wofür ich mich im Verlauf meines Studiums interessiert hatte. Es waren Fragen wie: ‘Was ist ein Tulku?’ ‘Welches System gibt es im Zusammenhang mit den Tulkus?’ ‘Wie hoch sind die Berge in der Umgebung von Lhasa?’ ‘Wieviele Klöster gab es dort?’ Über solche Fragen hatte ich mir eigentlich noch nie viel Gedanken gemacht. Kaum jemand wollte etwas über die Inhalte des Dharma wissen, über zukünftige und vergangene Existenzen, das Gesetz von Karma, die Zuflucht oder Wege, die zur Buddhaschaft führen. Die Fragen, die an mich gestellt wurden, betrafen hauptsächlich die Geographie und die Geschichte Tibets.
Nachdem ich sechs Jahren in der Schweiz gelebt hatte, folgte Seine Heiligkeit einer Einladung dorthin. Diese Gelegenheit nahm ich wahr, den Dalai Lama zu bitten, mich von meiner Aufgabe als Abt in Rikon zu befreien. Ich wollte meditieren und eine längere Klausur durchführen, um mich von schlechtem Karma zu reinigen, Verdienste anzusammeln und die verschiedenen religiösen Übungen durchzuführen. Seine Heiligkeit lobte diesen Wunsch und sagte, es sei richtig, daß ich mich zur Klausur zurückziehen wolle. Allerdings gab Seine Heiligkeit weder an das Kloster, noch an das Kuratorium des Ortes eine klare Anweisung, daß ich abgelöst werden sollte, sondern hieß meine Pläne nur im allgemeinen gut. Die Situation blieb in der Schwebe. Eine klare Entscheidung stand noch aus.
In dieser Zeit dachte ich sehr intensiv daran, mich zur Klausur zurückzuziehen und konzentrierter über Dharma nachzudenken. In den vergangenen vierzehn Jahren hatte ich als Flüchtling in Indien und in der Schweiz nicht viele Möglichkeiten dazu gehabt. Als Flüchtling hatte man sich um viele Dinge zu kümmern, die das tägliche Leben betrafen. Auch in der Schweiz gab es viel Geschäftigkeit und nicht die nötige Ruhe, um tiefgründigere Gedanken über Dharma zu üben. Deshalb faßte ich den Plan, in Klausur zu gehen. Doch nach der Abreise Seiner Heiligkeit aus der Schweiz kam alles anders.
Es gab in diesem Jahr, also 1974, in Bodhgaya eine Kalacakra-Initiation. Und Seine Heiligkeit wies mich noch im selben Jahr an, nun Abt im Tantra-Kolleg in Indien zu werden – zunächst drei Jahre lang verwaltender Abt (Lama Umdse), dann weitere drei Jahre Abt des Tantra- Kollegs (Kenpo). Nun versuchte ich, deutlich zu machen, daß meine Studienzeit schon lange vorbei war und ich viele der Schriften bereits vergessen hatte. Ich betrachtete mich als ungeeignet für diese Aufgabe und wollte lieber in Klausur gehen. Seine Heiligkeit wies mich trotzdem dazu an, diese Aufgabe zu übernehmen. So trat ich wieder in das Tantra- Kolleg von Unter-Lhasa ein, das inzwischen nach Gurupura bei Hunsur in Südindien (Ind. Bundesstaat Karnataka) verlegt worden war.
Als Lama Umdse war ich der Vorsteher des Klosters, der sich um alle möglichen Belange zu kümmern hat, der darauf achtet, daß die Disziplin im Kloster eingehalten und die Veranstaltungen wie vorgeschrieben durchgeführt werden. Ich mußte mich um die Mönche kümmern und bei allen Veranstaltungen und Rezitationen anwesend sein. Die Verhältnisse im Kloster zeigten, daß ich meine Aufgaben gut erledigt hatte. Die Studien waren gut organisiert. Nun lief ich Gefahr, meinen Flüchtlingspaß für die Schweiz zu verlieren, denn ich durfte mich nur drei Jahre lang im Ausland aufhalten. Hätte ich die Zeit überschritten, wäre der Paß ungültig geworden.
Also reiste ich nach Dharamsala und bat um eine Audienz bei Seiner Heiligkeit. Bei dieser Gelegenheit fragte ich Seine Heiligkeit, was ich nun tun solle, ob ich meinen Paß ablaufen lassen oder in die Schweiz zurückkehren solle. Ich wiederholte meine Ansicht, daß es besser für mich sei, wenn ich nicht der Abt des Tantra-Kollegs würde. Schließlich hätte ich meine Aufgabe als Lama Umdse gut erledigt. Iim Kloster laufe alles reibungslos. Ich bat Seine Heiligkeit, einen anderen als Abt einzusetzen, weil ich den dringenden Wunsch hatte, in die Schweiz zurückzugehen und dort meine Klausur durchzuführen. Seine Heiligkeit antwortete, ich solle für sechs Monate in die Schweiz zurückgehen und dort meinen Paß verlängern lassen. Dann aber müße ich zurückkommen und Abt des Tantra- Kollegs werden. Nach einiger Zeit als Abt könnte ich dann in die Schweiz gehen und meine Klausur durchführen.
So wurde ich Abt des Tantra-Kollegs. Meine Aufgaben bestanden im wesentlichen darin, den Mönchen dort Unterweisungen zu geben. An sich sollte ich diese Aufgabe drei Jahre lang innehaben, doch ich blieb nur ein Jahr, weil ich in die Schweiz zurück mußte, um meinen Paß zu verlängern. Dafür bekam ich die Erlaubnis Seiner Heiligkeit. Die Mönche des Tantra-Kollegs drängten mich, länger zu bleiben. Sie sagten, ich hätte dem Kloster sehr geholfen, und das Kloster sei in der Zeit, als ich Abt war, aufgeblüht. Aber ich blieb bei meiner Entscheidung, mit der Genehmigung des Dalai Lama zurück in die Schweiz zu gehen.
In Rikon wohnte ich bei einer Schweizer Familie und führte die Vorbereitenden Übungen und dann eine Klausur in Verbindung mit der Meditationsgottheit Yamantaka durch (ab Herbst 1977). Für diese Klausur sind neun Vorbereitende Übungen vorgeschrieben: 100.000 Niederwerfungen, 100.000 Mandala-Darbringungen, 100.000 Rezitationen des 100-Silben- Mantras von Vajrasattva, 100.000 Rezitationen des kurzen Bittgebets an Dsche Tsongkapa (Migtsema), 100.000 Zufluchtnahmen, die Herstellung von 100.000 kleinen Buddhafiguren (Tsatsa), 100.000 Darbringungen von Wasserschälchen und 100.000 Rezitationen des Mantras von Damtsig Dordsche (Samayavajra), das zur Bereinigung von Verfehlungen gegen die verschiedenen Gelübde gedacht ist. Den Abschluß bildeten 100.000 Feuerpujas, bei denen – als Symbol für die eigenen negativen Handlungen – schwarze Sesamsamen verbrannt werden. Die 100.000 Darbringungen von schwarzem Sesam dienen also zur Reinigung von schlechten Handlungen. Die einzelnen Sesamkörner werden als ‘schlechte Handlungen’ ins Feuer geworfen und verbrannt. Dabei wird das Mantra von Dordsche Kandro (Vajradaka) 100.000 Male rezitiert. Diese neun Vorbereitungen dauerten drei Jahre.
Nach all diesen Vorbereitungen fing ich mit der eigentlichen Klausur über Yamantaka an, wobei das hauptsächliche Mantra von Yamantaka 13 Millionen Male rezitiert wird. Diese Rezitation nahm zwei Jahre in Anspruch. Zum Abschluß wird das längere Mantra von Yamantaka 1.100.000 Male rezitiert. Diese Rezitation habe ich in Indien durchgeführt.
So konnte ich mich ganz gut von schlechten Anlagen reinigen und Verdienste ansammeln. Das Retreat dauerte insgesamt fünf Jahre. Später wurde ich von den Mönchen in Sera gebeten, als älterer und erfahrener Lehrer dorthin zu kommen. Deshalb ging ich 1989 nach Absprache mit Seiner Heiligkeit, der dieses Vorhaben gutgeheißen hatte, nach Sera in Südindien.
Das war die Geschichte eines Lebens ohne viel Dharma – eine leere, inhaltslose Lebensbeschreibung.
Nach einer mündlichen Übersetzung von Christof Spitz, überarbeitet von Svenja Willkomm, Michael Fritzsch und Carola Roloff.
http://www.tibet.de/ueber-uns/lehrer/kensur-geshe-ugyen-rinpoche.html